Steppe
Die Berge hatten sich zurückgezogen hinter nebelige Schleier. Ihre Welt war auf die Größe eines Regentropfen geschrumpft, der sich in der Hutkrempe sammelte und in einer beängstigenden Regelmäßigkeit über ihr Gesicht tropfte.
Sie schloß die Augen und schaukelte im Rhythmus des Pferdes vor und zurück.
Das Tal teilte sich und ihr Pferd wählte das Linke. Sie zuckte mit den Schultern und zog den Kopf wieder ein.
Dem nebeligen Licht folgte eine feuchte Dämmerung. Begleitet vom protestierenden Schmatzen ihres durchweichten Sattels schwang sie sich vom Pferd. Einen Augenblick lang bewegte sie sich nicht, die Arme auf den Sattel gestützt. Nur langsam gewöhnten sich die Beine daran, wieder auf dem Boden zu stehen. Der Wind hatte den Regen abgelöst und malte neue Geschichten in das Grasland.
Sie löste den langen, gelben Stoff, der eng um ihre Hüften gewickelt war. Er lag zu ihren Füßen wie ein leuchtendes Band auf endlosem Grün. Ohne ihn würde der schwere Mantel bis über die Knie hängen und im Wind tanzen. Gedankenverloren ließ sie einen Finger über die einstmals glänzenden Borten an Kragen und Ärmeln gleiten.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten das Land. Es hatte sich verwandelt und ein Licht wehte durch das Tal. Wie so oft ließen sie die Farben des Tages die vergangene Nacht vergessen.
Jeder Atemzug ließ sie ruhiger werden, im Gegensatz zu dem Land, das nie still zu stehen schien. Es trieb fort mit dem Licht, das durch die ziehenden Wolken fiel. Die Schatten zerbrachen das Grün und spiegelten es in seinen Schattierungen wider. Es erschien ihr einerlei, ob sie sich vorwärts bewegte, oder ob das Licht sie mitnahm auf seiner Wanderschaft.
Sie bemerkte zwei Reiter, die aus den Bergen kamen und ihr entgegen ritten. Sie standen in den Steigbügeln mit durchgestreckten Knien, leicht auf eine Seite geneigt und schienen über den Rücken ihrer Pferde zu schweben. Der orange Stoff um ihre Hüften bewegte die Landschaft und zog ihren Blick auf sich und die Gewehre auf dem Rücken der Männer. Die Männer brachten einen Beutel mit frischem Rahm und getrocknetem Käse zum Vorschein. Sie fesselten die Beine ihrer Pferde und setzten sich auf den Boden. Sie teilten das Essen mit ihr und keiner fragte nach dem Wer und dem Wohin.
Plötzlich deuteten sie mit ihren Gewehren auf die Berge und stiegen wieder in den Sattel. Überrascht folgte sie den beiden. Sie sprachen kein Wort.
Der Weg stieg langsam an und die Ebene wich zurück.
Einer der beiden zügelte sein Pferd und ritt an ihre Seite. Er hockte schräg im Sattel. Seine Schultern waren ihr zugewandt, und er beobachtete sie. Sein Gewehr trug er mit dem Lauf nach oben quer über den Rücken gebunden.
Endlich begann er zu erzählen. Sie wären auf der Jagd und trügen deshalb Gewehre, die im übrigen nicht geladen wären. Sie könnten sich ohnedies keinen Fehlschuß leisten, da Munition sehr teuer wäre. Jetzt wäre die Zeit, Murmeltiere zu schießen.
Nach einem letzten Anstieg erreichten sie eine kleine Hochebene, auf der das Grün noch mehr leuchtete als im Tal. Inmitten eines Meeres aus grünen Wogen war ein Brunnen ausgehoben mit einer Tränke aus Holz daneben. Die beiden Männer saßen abwartend im Sattel. Während sie abstieg, versuchte sie, sich den Schmerz in den Knien nicht anmerken zu lassen. Sobald sie den Sattelgurt ihres Pferdes gelockert hatte, blähte es den Bauch auf und seufzte. Sie holte an einem Seil den Wasserbeutel hoch und kippte ihn in die Tränke. Ihr Pferd trank in großen Zügen. Die beiden Männer nickten sich zu, stiegen ab und ließen auch ihre Pferde trinken. Sie meinten, sie müßten jetzt jagen, aber sie wäre bei ihren Familien willkommen. Sie müßte nur den Paß erreichen, dann sähe sie unterhalb schon ihr Zelt. Als sie den Brunnen wieder abgedeckt hatte, waren die Jäger schon außer Sichtweite.
Sie erreichte den Paß, als die Sonne schon lange Schatten warf, und ihr eigener Schatten hinter ihr herwanderte. Sie drehte das Pferd herum und blickte zurück in das Tal, das die Geschichte ihres eigenen Rittes erzählte. Ihre Unruhe war in diesem Tal zurückgeblieben. Beinahe widerwillig wanderte ihr Blick weiter über den Paß zu dem Bergland dahinter und sie entdeckte kleine, weiße Flecken zwischen dem Grün und dem Blau und machte sich auf den Weg dorthin.
Einige Reiter kamen ihr entgegen. Sie nickten und lachten und umkreisten sie. Schmale, dunkle Kinderaugen starrten sie an. Nichts an ihr entging ihnen, nicht ihre verschlissene Kleidung, nicht ihre großen Augen, nicht ihr erschöpftes Pferd. Mit einer Eskorte von strahlenden Kindern näherte sie sich den runden Zelten, deren Weiß das Land mit dem Himmel verschmelzen ließ. Der Rest der Familie hatte sich im Schatten ihrer Behausung versammelt und harrte der Fremden.
Eine Frau kam ihr entgegen mit einer Schale gegorener Stutenmilch in beiden Händen. Sie reichte ihr die Schale mit der rechten Hand und berührte mit der Linken den Ellenbogen. Die Milch schmeckte leicht säuerlich, aber erfrischte ungemein. Ein leichter Geschmack von Pferdestall blieb auf der Zunge zurück, doch sie hatte sich schon vor langer Zeit daran gewähnt.
Aus einem Sack, der quer über den Sattel gebunden war, kramte sie ein Messer hervor und reichte es mit beiden Händen dem Ältesten.
Aus den Bergen im Norden kam ein Lied herübergeweht. Die Sonne berührte die Gipfel und färbte das Land golden. Die Klänge näherten sich und füllten die Berge mit einem Zauber und brachten Nachricht aus dem nächsten Tal. Zwei Gestalten und drei Pferde lösten sich von den rötlichen Felsen und trabten auf die Zelte zu. Ihr Lied schwoll an. Es erzählte die Geschichte des siegreichen Pferdes, das über das Grasland flog, ohne daß seine Hufe die Erde berührten. Die helle Stimme des Kindes hallte von den Felsen wider und ihr Echo vermischte sich mit der stolzen Stimme des Vaters. Sie ritten Seite an Seite und führten den tänzelnden Hengst an einer Leine. Sein schwarzer Schweif war zu einem Zopf geflochten, seine Mähne gestutzt. Ein Büschel Haare über seiner Stirn war mit einer Schnur zusammengebunden und bewegte sich im Rhythmus der Hufe. Ein Zittern ging durch seine Flanken und er schnaubte, als ob er der Leine entkommen wollte. Immer wieder fiel er in einen kurzen Galopp, ohne Anzeichen der Erschöpfung nach dem schnellen Ritt zu zeigen. Auf seiner Stirn trug er einen goldenen Stoff, auf den kleine Münzen als Zeichen seiner Siege genäht waren.
Das Mädchen sang das Lied zu Ende. Stille legte sich über die wartenden Menschen vor den Zelten.
Die kleine Gestalt saß hocherhoben im Sattel, die Beine reichten kaum bis zur Hälfte der Flanke ihres Pferdes. Auf dem Kopf trug sie einen spitzen Hut, der in leuchtendem Blau jedem von ihrem Sieg erzählte. Der Vater erhob die Stimme erneut und sang von seiner kleinen Tochter, die es wie keine andere verstand, den Hengst zu leiten, ohne seine Energie zu bändigen.Der dunkle Hengst und das Mädchen ritten in einer Einheit, die alles um sie herum zurückweichen ließ. Der Hengst vermochte kaum ihr Gewicht zu spüren, und er flog dahin und sie mit ihm auf seinem blanken Rücken.
Als die letzten Töne verhallten, erreichten sie ihre Familie. Eine Schale mit heißem Milchtee wurde ihnen gereicht. Der Vater tauchte den vierten Finger leicht ein und verspritzte einige Tropfen auf die Erde und in den Wind. Dann gab er die Schale weiter an seine Tochter.
An diesem Abend schlachteten sie ein Schaf aus ihrer Herde. Mit schnellen Schnitten lösten sie das Fell vom Körper, so daß das Schaf auf seiner eigenen Felldecke lag. Im größten Zelt kochten sie das Herz und die Nieren und die Leber und die Lunge in einem großen Kessel über einem Feuer aus Pferdeäpfeln.
Der Kopf des Schafes baumelte neben seinem Kärper an einem Haken. Am nächsten Tag würden sie das Fleisch in kleine Streifen schneiden und zum Trocknen zwischen den Stützstangen des Zeltes aufhängen.
Der Älteste saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden und stopfte seine kleine, weiße Pfeife. Nach einer Weile hob er ruckartig seinen Kopf und sah sie an.
Warum bist du durch diese Weite, über Berge und durch Flüsse hierhergeritten?
Sie neigte den Kopf nach hinten und beschattete ihre Augen und antwortete von weit her.
Wegen des zerschnittenen Himmels.
Sie fügte dem lange nichts hinzu, und beide starrten über die Schulter des anderen in die Ferne. Seine Augen suchten die Weite, aus der sie gekommen war, ihre verloren sich in den Farben der Zukunft.
Ich saß auf einem drehbaren Stuhl mit Rollen. Der Stuhl rollte in einem schmalen Zimmer auf und ab. Vor dem Fenster hing eine Jalousie, die das Sonnenlicht vom Stuhl fernhielt. Mit einer Drehung meines Stuhles konnte ich im Fenster einen Himmel und einen Berg sehen. Die Jalousie teilte beides in kleine Streifen. Ich sah den Gipfel des Berges, doch nicht den Weg dorthin. Ich sah den Berg eingeteilt in winzige Streifen, die ihn bedeutungslos werden ließen.
Eines Tages brach ich auf, den ganzen Himmel zu sehen.
Er sog bedächtig an seiner Pfeife und nickte.
Dann stand er auf und deutete ihr an, ihm zu folgen. Seine Beine waren nach außen gekrümmt und seine Knie kamen sich nie näher als eine Elle. Ohne sich nach ihr umzudrehen, machte er sich auf den Weg zu einem Joch, auf dem Steine zu einem Kegel aufgeschichtet waren. Der Wind hatte zugenommen und blies ihre Mäntel auf. Der alte Mann stemmte sich gegen den Wind und seine Augen schweiften über die Herden im Tal, bis sie am Horizont festfroren, wo sich das Singen des Windes mit seinen Gedanken verschmolz. Er erhob die Stimme, um gegen den Wind gehört zu werden.
Frage nie nach dem Wohin eines Reiters, denn die Antwort würde seine Zukunft bestimmen, und von da an würde der Reiter bestrebt sein, seine Pläne einzuhalten. Sein Weg wäre von da an in beiden Richtungen festgelegt, und sein Augenmerk läge nicht auf dem Jetzt, sondern würde abgelenkt werden durch das Woher und das Wohin. Dieser Ort hier ist mein Jetzt. Ihn zu finden, bedeutet Ruhe zu erlangen. Wo dein Herz das Woher und das Wohin vereint, dort ist deine Wanderschaft beendet.
Daraufhin erhob er beide Arme und bewegte sie in Kreisen durch die Luft und umarmte die Welt. Er hob einen Stein auf, umrundete langsam den Steinkegel von links und warf den Stein auf die Spitze. Dann wankte er umständlich zu seinem Zelt zurück. Sie blieb auf dem Joch, bis die Dunkelheit sich an den Steinkegel herantastete.
Mit dem ersten Licht des Morgens rollte sie ihre Decke zusammen und machte sich auf die Suche nach ihrem Pferd. Zu ihren Füßen erwachte das Grasland, und der Wind,Gefährte und Gegner zugleich, lud sie abermals ein, mit ihm zu ziehen.
Die ganze Familie stand vor den Zelten versammelt und beobachtete ihr Tun, so wie sie es am Tag ihrer Ankunft getan hatte. Sie ließen die Fremde gehen.
Der Älteste drückte ihr einen Beutel mit getrocknetem Schaffleisch in die Hand. Ihr Blick glitt liebevoll, und doch nie verstehend, über die Gesichter der Zurückbleibenden. Sie lächelte und zog sich in den Sattel.
Ohne sich umzudrehen ritt sie langsam weiter in das nächste Tal.
Als sie ihr Pferd zu einem Galopp antrieb, berührten die ersten Sonnenstrahlen ihre Schulter.